Dass
Internet-Bekanntschaften nicht immer halten, was sie versprechen, weiß so
ziemlich jeder, der regelmäßig im Netz unterwegs ist. Hier tummeln sich Betrüger,
Abzocker und Hochstapler jeglichen Niveaus. Zum Glück haben sie einige gemeinsame
Merkmale, mit deren Hilfe sie sich relativ leicht erkennen und enttarnen
lassen. Oder?
Eine
Veranstaltung im Rahmen der Lesereihe #microsoftliest, bei der Autoren ihre
Bücher mit IT-Bezug vorstellen, ließ daran einige Zweifel aufkommen. In der
behaglich eingerichteten Café-Lounge von Microsoft Deutschland Unter den Linden
unterhielt sich Radio-Eins-Moderator Sven Oswald gewohnt locker, amüsant und
schnodderig mit der Hamburgerin Victoria Schwartz.
Was Victoria mit
Kai erlebte, lässt einem die Haare zu Berge stehen. Dabei fing alles so schön
an. Die alleinerziehende Mutter, internetaffin, klug und selbstbewusst, hatte
einen Tweet gepostet und erhielt dazu einen netten Kommentar von einem Unbekannten.
Es entwickelte sich ein Dialog. Man hatte dieselbe Wellenlänge, sprach dieselbe
Sprache, der Smalltalk wurde zu echter Kommunikation mit tief gehenden Themen. Kais
Facebook-Profil zeigte einen attraktiven, sympathischen Mann, der seine
aktuellen Erlebnisse mit vielen Freunden teilte. Er postete Bilder vom Schwimmen
ebenso wie Videos vom Orkan, der soeben über ihn hinwegzog.
Kai lebte in
Münster, schrieb er, sei aber gerade für vier Monate in den USA. Er nahm großen
Anteil an Victorias Leben, zeigte Interesse, schickte ihr und ihren Kindern
Pakete mit Geschenken: ein Traummann! Die beiden führten lange Telefongespräche
miteinander. Sie verliebten sich ineinander. Victoria sehnte den Tag herbei, an
dem sie Kai endlich persönlich gegenüberstünde.
Dann war Kai
wieder zurück in der Heimat – doch das Treffen fand nicht statt. Gar nichts
fand statt, denn er meldete sich erst wieder aus China, wo er aus beruflichen
Gründen weitere vier Wochen verbrachte. Es sei ihm so schlecht gegangen die
paar Tage in Münster, entschuldigte er sich, und es tue ihm furchtbar leid.
Erneut schickte er Briefe, Karten, Geschenke.
Doch nach seiner
Rückkehr aus China wurde das Treffen erneut immer wieder verschoben und
abgesagt. Jetzt wurde Victoria misstrauisch. Sie bediente sich desselben
Mediums, das ihr diesen Traumtypen beschert hatte, um mehr Informationen über
ihn zu finden: Google, Bildersuche, Rückverfolgung von Kontakten. Kais Selfie
im Badezimmer brachte einen ersten Beweis: Wenn er in Münster war, wieso hatte
sein Bad dann amerikanische Steckdosen?! Seine Antwort kam in
Sekundenbruchteilen: Die habe er sich aus den USA mitgebracht und selbst
eingebaut.
Längst war
Victorias Verliebtheit einer tiefen Skepsis gewichen, aber sie spielte das böse
Spiel noch zehn Monate lang mit, um weitere Informationen zu erhalten. Sie fand
heraus, wer die Person auf Kais Fotos tatsächlich war und dass seine
angeblichen Freunde bei Facebook sämtlich Fake-Accounts waren. Ein Journalist
der Zeitschrift Neon, mit dem sie
Kontakt aufgenommen hatte, reiste schließlich in die USA, um Kai dort
persönlich zu treffen und mit den Erkenntnissen zu konfrontieren.
Was er
herausfand, macht fassungslos – und lässt sich in Victoria Schwartz‘ Buch
nachlesen. Aber nicht nur das, denn hier gibt die Kommunikationsdesignerin auch
Ratschläge für Betroffene. Nach ihren schmerzlichen Erfahrungen war sie, anders
als die meisten, offensiv damit umgegangen und hatte einen Blog eingerichtet. Sie
hatte nicht geahnt, wie viele Menschen dasselbe erlebt hatten wie sie. Viele
davon wendeten sich in ihrer Verzweiflung an Victoria Schwartz und schilderten
ihre eigene Geschichte. Inzwischen ist die Hamburgerin inoffizielle
Anlaufstelle und investiert ihre Freizeit in die ehrenamtliche Beratung von
Betroffenen.
Noch gibt es
keine offiziellen Studien über das Phänomen Realfakes, doch die E-Mails, die
Schwartz täglich erhält, belegen die erschreckend hohe Anzahl der Fälle. Mindestens
70 Prozent der Opfer, sagt die Autorin, sind weiblich – und übrigens auch 70
Prozent der Täter.
Die nutzen meist
eine ebenso perfide wie erfolgreiche Taktik. Sie lassen ihren Zielkontakten
nämlich ein ungeahntes Maß an Aufmerksamkeit und Fürsorge zukommen, wie diese
es häufig nur aus ihren Tagträumen kennen, und binden sie somit emotional immer
enger an sich. Werden die Betroffenen dann „anstrengend“, etwa weil sie auf
einem persönlichen Treffen oder einem Videochat bestehen, so ziehen sie sich
schlagartig zurück und lassen ihr Opfer mit Gewissensbissen zurück: Was habe
ich falsch gemacht? Warum meldet er sich nicht mehr? Wie konnte ich nur so dumm
sein, diesen tollen Mann so unter Druck zu setzen? Beim nächsten Mal – und das
gibt es immer, denn natürlich kommen die Kais irgendwann zurück – sind sie dann
vorsichtiger, stellen keine Forderungen mehr, geben sich zufrieden (und immer mehr
von sich preis).
Sie sei auch
vielen Anfeindungen ausgesetzt gewesen, erzählt Victoria Schwartz im Gespräch
mit Radio-Eins-Moderator Sven Oswald. Man habe sie beschimpft und ihr die
Schuld gegeben. Wenn man sie persönlich erlebt, scheint das abwegig: Sie ist
offensichtlich alles andere als ein naives Dummchen mit spätpubertären Träumen
von der großen Liebe, sie steht mit beiden Beinen im Leben, kennt sich aus,
kann argumentieren und hat Humor. Das macht die Sache nicht besser: Es kann
offenbar jeden treffen …
Victoria
Schwartz: Wie meine Internet-Liebe zum
Albtraum wurde. Das Phänomen Realfakes, Blanvalet, 319 Seiten, 12,99 Euro.
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