Ganz gleich, welches
Stück auf dem jährlich wechselnden Programm steht: Eine Aufführung des
Theatersommers Netzeband ist immer ein überwältigendes Erlebnis. Zum Teil hat
dies etwas mit der Lage des Freilichttheaters zu tun, das sich in einem
winzigen brandenburgischen Dorf versteckt. Die eintreffenden Gäste werden mit
einem spektakulären Sonnenuntergang in Stimmung gebracht.
Die „Bühne“ ist ein großzügig
angelegter Park mit einer weiten Rasenfläche, die von alten Bäumen umgeben ist.
Besonders beeindruckend sind die Inszenierungen, wenn sie die Möglichkeiten
dieser wunderbaren Naturkulisse ausschöpfen. Bei „Peer Gynt“, der diesmal auf
dem Spielplan stand, war das der Fall.
Die Geschichte des großmäuligen
Bauernsohnes ist abenteuerlich, verworren und erinnert stellenweise an den
Baron Münchhausen, denn auch Peer verwickelt sich oft in seinen eigenen Lügen
und stilisiert sein Leben zur Anekdote.
Als Jugendlicher gibt er mit
übermenschlichen Kräften an, entführt eine Braut von ihrer Hochzeit
und gerät in das Reich der Trolle, deren strengen Regeln er sich allerdings
auch nicht unterordnen kann. Für mich der absolute Höhepunkt der Aufführung war
der Auftritt des Trollkönigs, der als eine Mischung aus Zuhälter und
Sowjetoffizier inszeniert wurde und mit einem großartig getunten, dröhnenden,
LED-leuchtenden Angeberauto vorfuhr – ich gebe gerne zu, dass ich vor Neid
gesabbert habe.
Peer Gynt verdient viel
Geld mit zweifelhaften Geschäften und wird zu einer Art Business-Guru. In einer
grandiosen Szene beeindruckt er seine Bewunderer mit dem branchenüblichen Bullshit-Bingo.
Wie immer beim Theatersommer Netzeband wurde auch der Originaltext von Henrik Ibsen durch kleine Abwandlungen aktualisiert und ironisiert: Peer erzählt, wie er als
unbedarfter Ossi in den Westen kam und dort sein Glück machte.
Seine Karriere nimmt noch
weitere zunehmend abstruse Wendungen. Als Sultan beispielsweise steht ihm ein
ganzer Harem verschleierter Tänzerinnen zur Verfügung, auch dies ein
wunderbares Bild vor der zunehmend dunkler werdenden Parkkulisse.
Aber auch Peer Gynt wird
alt, und das Glück ist nicht mehr auf seiner Seite. Am Ende ist er verarmt,
einsam und von Selbstzweifeln geplagt. Ist er wirklich nicht mehr als eine
Zwiebel, deren Schichten den fehlenden Kern verbergen? Für den Tod ist er
trotzdem nicht bereit und will auch ihm durch seine gewohnheitsmäßigen Lügen
und Tricks entkommen.
Nur zwei Punkte kann ich
an der Aufführung kritisieren: Die Rolle der Solveig blieb blass und unklar,
wozu sicherlich auch das tranceartige leere Starren dieser Figur beitrug, und
gegen Ende nahm die Inszenierung stark an Tempo und Unterhaltsamkeit ab, so
dass man sich ein wenig durch die letzten Szenen hindurchquälen musste.
Das tut aber der
Großartigkeit des Gesamtkunstwerks keinen Abbruch. Wie immer waren die
Schauspieler – alle sehr jung und alle Laien – umwerfend gut, die von
Profischauspielern eingesprochenen Synchronstimmen fantastisch und die Kostüme
schrill und amüsant.
Im Gegensatz zum Vorjahr, als Shakespeares „Richard III.“
auf dem Spielplan stand, wurde diesmal wieder deutlich mehr Musik
eingesetzt, was mich ganz besonders gefreut hat. Auch die Masken waren weniger
grotesk, erstmals gab es sogar gänzlich unmaskierte Rollen – das ist für
Netzeband ein Novum, mir hat es gefallen.
Die Glanzleistung des
Vollmonds, der den zweiten Teil der Aufführung mit seiner enormen Bühnenpräsenz
stark prägte, soll ebenfalls nicht unerwähnt bleiben.
In diesem Jahr war unsere
Berliner Fangemeinde bereits auf elf Personen angewachsen, und ich glaube, dass
ich nächstes Jahr noch einige Tickets mehr besorgen muss. Es wird mir ein Vergnügen
sein!
Was für einen wunderbaren Abend wir hatten. Danke, lieber Jordan, für Deinen Artikel und die Fotos. Es stimmt, der Auftakt war schneller, unterhaltsamer und verzauberter. Aber erst der Schluss hat mich getroffen: Der Tod, der für jene, die ihr Wesen nicht verwirklichen können, gleichbedeutend ist mit Einschmelzen und anders gewoben werden. Solveigs Hoffen, Sehnen und Glauben an Peer, in dem er schließlich Heimat und Ruhestätte findet, das hat mich noch lange verfolgt. Dazu diese Bilder, die, wie Du treffend formulierst, auch der Lage des Theaters geschuldet sind und den Masken. Unbewegliche Trollgesichter, die aus den Tiefen des Waldes erscheinen und deren kalkweiße Gesichter sich ins Un- oder Vorbewusstsein graben. Du siehst, es war ein Erlebnis und wenn Du so weiter machst, Jordan, besetzen wir Berliner Autor*innen bald die ganze Vorstellung. Liebe Grüße Tanja
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