Rund dreizehn Jahre lang
teilen die Zwillinge Noah und Jude alles außer ihrem Körper. Dann kommt es zu ersten
Zerwürfnissen. Beide beanspruchen die Position als Lieblingskind der Mutter,
und während der sensible Noah sich fast ausschließlich mit dem Malen
beschäftigt und sich in den Nachbarjungen Brian verliebt, wird Jude zu einem
oberflächlichen, frühreifen Partygirl. Dann trennen sich ihre Eltern. Ehe die
Mutter sich zu ihrer neuen Beziehung bekennen kann, verunglückt sie tödlich.
Erneut verschieben sich die Positionen der Zwillinge grundlegend. Jetzt wird
Noah der Oberflächliche: Er gibt das Malen auf, schließt sich einer
sportbegeisterten Clique an und leugnet seine Homosexualität. Jude dagegen
zieht sich ganz in sich selbst zurück, lässt sich von Ängsten und Aberglauben
lenken und tut alles, um den schrulligen Bildhauer Guillermo als Mentor zu
gewinnen.
Erst nach und nach stellt
sich heraus, was die beiden Geschwister so verändert hat, welchen Verrat beide am
jeweils anderen, an den Eltern und sogar an sich selbst begangen haben. In
dieser verwickelten Geschichte kreuzen sie immer wieder die Wege bestimmter
Personen, die auch untereinander auf mehreren Ebenen verbunden sind. Erst als Jude
und Noah ihre neue Position gefunden und einander ihre Verfehlungen
eingestanden haben, können sie wieder aufeinander zugehen, und am Ende findet
jeder sein ganz persönliches Glück.
„Ich gebe dir die Sonne“
erzählt in der Ich-Form in längeren Kapiteln abwechselnd aus Noahs und aus
Judes Perspektive, und zwar auf allerhöchstem sprachlichen Niveau. Die Dialoge
sind lebendig und altersgerecht, die Formulierungen ungewöhnlich, originell und
sehr poetisch. Sowohl in Noah als auch in Jude kann man sich so gut
hineinversetzen, dass es schwer fällt, den jeweiligen Ich-Erzähler zu verlassen,
wenn die Perspektive erneut wechselt.
Der Leser begleitet die Zwillinge über
einen Zeitraum von drei Jahren, in denen sie von einer eng verbundenen Einheit
zu ganz unterschiedlichen, rivalisierenden Geschwistern werden, die nicht nur
zahlreiche Geheimnisse vor einander verbergen, sondern auch viel Schuld auf
sich laden. Kleine, spontane Gehässigkeiten ziehen unabsehbare Konsequenzen
nach sich, an denen beide fast zerbrechen. Das ist sehr eindrucksvoll
geschildert, und auch die Nebenfiguren sind plastisch und lebendig beschrieben.
Auf den letzten 100
Seiten werden dann alle Verwicklungen und Missverständnisse geklärt, doch
leider erhält der Roman dadurch einen hohen Kitschfaktor, der mein zuvor sehr
großes Lesevergnügen stark getrübt hat. Die geheimen Wünsche aller Beteiligten
werden erfüllt, die Konflikte lösen sich auf, strahlende Zukunftsperspektiven
eröffnen sich, Liebende finden zueinander, es wird mutig bekannt und großzügig
verziehen – das war mir zu viel Happy End für einen ansonsten so starken,
ehrlichen und emotional bewegenden Roman.
Trotzdem bleibt „Ich gebe
dir die Sonne“ ein empfehlenswertes Buch, ganz besonders wegen seiner
außergewöhnlich kreativen Sprache und der vielen witzigen Ideen, die gut zu den
künstlerisch begabten, vielschichtigen und nicht alltäglichen Figuren des
Romans passen.
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