Ein fauler Gott erzählt die Geschichte des elfjährigen
Benjamin, dessen jüngerer Bruder ums Leben kommt. Der Roman ist angesiedelt im
Hamburg des Jahres 1972, die Fragestellung jedoch zeitlos: Gibt es einen
angemessenen Umgang mit dem Tod? Welchen Regeln folgt Trauer, und wie können
wir Kindern bei der Bewältigung helfen?
Stephan Lohse las Passagen seines Debütromans Ein fauler
Gott im Literarischen Colloquium Berlin. Begleitet wurde die Lesung durch die
Kinder- und Jugendtherapeutin Magdalena Manker, eine langjährige enge Freundin
des Autors und Schauspielers.
Kinder trauerten anders als Erwachsene, erklärte die Psychologin,
weil sie Zeit noch nicht abstrahieren, sondern sie eher an Erlebnisinhalten
festmachen. Deshalb seien sie in der Lage, sich selbst in einer akuten
Trauerphase immer wieder in kleine Inseln oder Blasen des Trostes zu retten.
Benjamin gelingt dies zum Beispiel, wenn er sich in das
alte, ausgeschlachtete Auto im Vorgarten von Herrn Gäbler setzt und so tut, als
fahre er. Das hilft ihm besonders deshalb, weil Herr Gäbler ihm dabei
Gesellschaft leistet. Die Unterhaltungen der beiden machten einen Großteil der
gestrigen Lesung aus.
Herr Gäbler stellt seine eigene Lebensgeschichte in den
Hintergrund. Ernst, respektvoll und aufmerksam begleitet er Benjamin auf seinen
mentalen Ausflügen, hört seinen kindlichen Theorien über das Leben und den Tod
zu und versorgt ihn mit Proviant. Ein Roadmovie in einem still stehenden Auto –
das ist ein anrührendes Bild für den Trauerprozess.
Als „wissenden Zeuge“ bezeichnete die
Erziehungswissenschaftlerin Alice Miller einen solchen zuverlässigen, am
Ereignis unbeteiligten Begleiter, der sich weder aufdrängt noch Ratschläge
erteilt, sondern eher im Hintergrund agiert – Präsenz und Mitgefühl statt
Überfürsorge und „Schongang“.
Benjamin hilft allein schon das Gefühl, wahrgenommen zu
werden, so wie es auch dem Autor Stephan Lohse ging, als er ungefähr im selben
Alter mal einige Stunden zu einer Therapeutin geschickt wurde. Diese
Erinnerungen, so erzählte er, gehörten zu den schönsten und entspannendsten
seines Lebens.
Im Gespräch verwies er an mehreren Stellen auf
autobiografische Elemente, die in seinen Erstlingsroman eingeflossen sind –
vielleicht ist das der Grund für dessen einzige Schwäche: Benjamin wirkt für
einen Elf-, später Zwölfjährigen sehr kindlich. Zwar zeichnet Lohse ein
gelungenes und stimmiges Psychogramm, aber die gesamte Gefühls- und
Gedankenwelt Benjamins sowie auch der mütterliche Umgang mit ihm passen aus meiner
Sicht eher zu einem Sieben- oder Achtjährigen. (Mich hätte mit zwölf jedenfalls
definitiv niemand mehr in eine Strumpfhose zwingen können!)
Eine der Erkenntnisse dieser Veranstaltung war, dass die
Arbeit des Psychotherapeuten und die des Schriftstellers viel gemeinsam haben.
Grundlage ihres Berufs, erläuterte Magdalena Manker, sei das Handwerkszeug, die
Technik – was ohne Zweifel auch für Schreibende gilt. Der nächste Schritt sei
dann das Sortieren und Analysieren der Fakten – im Schreibprozess vergleichbar
mit der Recherche und dem dramaturgischen Aufbau. Die Wirksamkeit einer
Therapie jedoch, betonte Manker, hänge von der therapeutischen Beziehung ab, also
von der Gefühlsebene, und auch hier ist die Parallele mit dem gelungenen Roman,
der fesselnden Erzählung offensichtlich: Erst wenn der Leser sich in seinem
emotionalen Erleben widerspiegeln kann, hat die Literatur ihre ganze Wirkung
entfaltet.
Stephan Lohse: Ein fauler Gott, Suhrkamp Verlag, März 2017
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