Bühne frei! Eigene Texte vor Publikum lesen, Teil III

Im dritten Teil meiner Blogserie über das Lesen eigener Texte wird es konkret: Du erfährst einiges über lebendige Sprache, Geschwindigkeit und die gefürchteten Pannen.


Wer bin ich?

Um einen guten Roman zu schreiben, muss man den Figuren sehr nahe kommen. Man sieht sie genau vor sich, kennt ihre Eigenarten, Tics und Schwächen, ihre Vorlieben und Ängste. 

Zu den Persönlichkeitsmerkmalen eines Menschen gehört auch seine Sprache. Im Roman ist die womöglich nicht so wichtig – es sei denn, eine deiner Figuren stottert, spricht sehr leise oder hat einen ausländischen Akzent –, aber bei einer Lesung gewinnen die Spracheigenheiten an Bedeutung.

Vielleicht hat dein Roman einen Ich-Erzähler. Versetz dich in ihn hinein. Was ist das für ein Mensch? Ist er ein penibler, risikoscheuer Beamter mit einem festen Tagesablauf? Dann spricht er wahrscheinlich eher langsam, monoton und überdeutlich. Ist er ein drogenabhängiger Jugendlicher? Dann könnte seine Sprechweise schnell, verwaschen und emotional sein. Versuch, diese Art des Sprechens bei der Lesung anzudeuten. Bitte nicht übertreiben!

Wenn der Roman aus mehreren Perspektiven erzählt ist, kannst du das mit ganz leichten Varianten der Sprechweise unterstreichen. Das Top-Model näselt ein bisschen und klingt leicht arrogant, die Stimme des alten Mannes ist heiser und tief, die neugierige Nachbarin spricht schrill und laut.

Um herauszufinden, wo das richtige Maß liegt, kannst du dir gute Hörbücher anhören, die von professionellen Schauspielern gesprochen wurden. Da wird nicht mit verstellten Stimmen gearbeitet, sondern lediglich mit Nuancen – und trotzdem weißt du als Zuhörer immer, welche Figur da gerade spricht.

Stöhnen und Stottern

Gutes Vorlesen ist immer auch ein bisschen Performance. Wenn die Figur in deinem Roman „o nein!“ stöhnt, kannst du das auf der Bühne ruhig zelebrieren. Du kannst deinen ganzen Weltüberdruss in diesen Ausruf legen und dabei die Augen verdrehen. Damit verleihst du deinem Vortrag mehr Lebendigkeit. Achte im Alltag bewusst darauf, wie solche kleinen Gesten aussehen, und übe sie zu Hause, ehe du damit an die Öffentlichkeit gehst. Je natürlicher sie wirken, umso besser. Künstlich einstudierte Gefühlsausbrüche sind eher peinlich.

Schwierig wird es, wenn eine deiner Figuren einen Dialekt spricht oder einen Sprachfehler hat. Das ist übrigens auch für geschriebene Texte nicht unbedingt empfehlenswert. Nichts ist mühsamer, als sich durch seitenlange Dialoge in phonetisch transkribiertem Bayerisch quälen zu müssen, vor allem, wenn es schlecht gemacht ist (und das ist es fast immer).

Falls du nicht zufällig selbst sozusagen Betroffener bist, solltest du bei der Lesung auf die Nachahmung eines Dialekts oder eines Sprachfehlers verzichten.

Lebendige Dialoge

„Hören Sie, ich habe sie nicht getötet! Sie kam am Samstag zu mir, um mir ihren neuen Nagellack zu zeigen, ja, das stimmt. Aber sie blieb nur bis zehn, das müssen Sie mir glauben!“

Die Unsitte, Sätze mit „Hören Sie“ zu beginnen, ist sogar in der gehobenen deutschen Literatur mittlerweile sehr verbreitet – und das, obwohl absolut niemand diese Floskel jemals im täglichen Leben verwendet. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine unzulängliche Übersetzung des englischen „listen“, das im angelsächsischen Sprachraum sehr häufig ist, aber keine adäquate deutsche Entsprechung hat. Wenn es gar nicht anders geht, schreib und sag wenigstens „hören Sie mal“.

„Das müssen Sie mir glauben“ ist eine Erfindung von Heftroman-Autoren und ein fürchterliches Klischee, ohne das kein Fernsehkrimi mehr auszukommen scheint. Verzichte darauf! Echte Verbrecher sagen so was nicht, das musst du mir glauben.

Auch dem Imperfekt wirst du kaum jemals auf freier Wildbahn begegnen. In der gesprochenen Sprache benutzen wir fast ausschließlich das Perfekt. Also: „Sie ist am Samstag zu mir gekommen, aber sie ist nur bis zehn geblieben.“

Natürlich ist im Roman eine gewisse Kunstsprache erlaubt. Trotzdem ist es erfrischend und beweist deine literarischen Qualitäten, wenn du deinen Dialogen Authentizität und Lebendigkeit verleihst. Gerade bei Lesungen zahlt sich das aus. Das Publikum wird deinen wirklichkeitsnahen Stil zu schätzen wissen!

Flüche und Kraftausdrücke

Der Ich-Erzähler meines ersten Romans ist ein 17-Jähriger, der in einer Jugendwohngruppe lebt. Nachdem ich meine allererste öffentliche Lesung gehalten hatte, kam eine ältere Dame aus dem Publikum zu mir und sagte: „Ich hab mitgezählt. Sie haben dreizehn Mal Scheiße gesagt.“


Auch wenn ich mich bis heute frage, ob die Dame trotz dieser anspruchsvollen mathematischen Leistung irgendwas vom Inhalt mitbekommen hat, muss ich doch zugeben, dass sie mich nachdenklich gemacht hat. Nein, mehr noch: Sie hatte Recht. Die Sprache, die ich in meinem Romanmanuskript verwendet hatte, war zwar authentisch, aber man kann es eben auch übertreiben. Gerade bei Lesungen ist die Geschmacksgrenze schnell erreicht. Was auf dem Papier vielleicht nur ein leises Stirnrunzeln auslöst, kann in ausgesprochener Form wirklich, äh, zum Kotzen sein.

Überprüf deinen Lesetext auf Flüche und Kraftausdrücke. Wenn es mehr als drei sind, streich die restlichen einfach weg.

Lesegeschwindigkeit und Pausen

Ein wichtiges Thema haben wir noch gar nicht behandelt: die Lesegeschwindigkeit. Praktisch alle Anfänger neigen dazu, ihre Texte herunterzurasseln, als hätten sie anschließend noch einen Termin beim Jobcenter. Das ist durchaus verständlich, denn der unerfahrene Autor fürchtet, die Aufmerksamkeit seines Publikums zu verlieren, sobald er auch nur die kleinste Pause einlegt. Er hat so viel zu sagen, und er will es ganz rasch loswerden, ehe die Leute wieder davonlaufen! Wann kriegt er schließlich schon mal die Chance, ununterbrochen reden zu dürfen?

Keine Sorge: Die Leute laufen nicht weg. Sie haben sich für deine Lesung Zeit genommen, und auf fünf Minuten mehr oder weniger kommt es ihnen nicht an. Viel wichtiger ist, dass sie ganz genau verstehen, was du ihnen zu sagen hast, und dazu musst du deutlich, laut und vor allem langsam sprechen.

Denk daran: Das Publikum kennt deinen Text noch nicht! Es hört ihn gerade zum ersten Mal und muss die Möglichkeit haben, jeden einzelnen Satz noch mal im Kopf nachhallen zu lassen.

Als Faustregel gilt: Wenn du selbst das Gefühl hast, in Zeitlupe zu lesen, ist es für deine Zuhörer gerade richtig.

Und achte auf kurze Pausen zwischen den Absätzen, im Anschluss an wörtliche Rede und so weiter. Alles, was in einem gedruckten Buch die Typografie übernimmt, musst du den Zuhörern durch deinen Vortrag liefern. Sie haben den Text nicht vor Augen und wissen nicht, an welcher Stelle die Perspektive wechselt oder ein anderer Sprecher auftritt. Hilf ihnen durch Pausen, dich zu verstehen!

Mit Pannen zum Erfolg

Das war eine Menge an Informationen, und vielleicht denkst du jetzt resigniert: Das schaff ich nie. Nur Mut! Es tut nur beim ersten Mal weh. Von Mal zu Mal wirst du besser und routinierter, legst mehr Ausdruck in deine Stimme, beherrschst deinen Text wie ein Schauspieler seine Rolle und kannst das Publikum immer stärker faszinieren.

Vor einem umgekippten Wasserglas, einem kaputten Mikrofon oder einem abgesprungenen Hosenknopf musst du keine Angst haben. Gerade solche kleinen Pannen machen dich menschlich und sympathisch. Sie beweisen den Zuhörern, dass du – obwohl Autor! – letztlich doch mit den gleichen Problemen zu kämpfen hast wie alle anderen auch. Pannen schaffen Verbundenheit und sorgen dafür, dass man sich lange an dich erinnert.

Also, wer weiß – vielleicht baust du sie ganz gezielt in deine Lesungen ein?

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