Ein fremdes Land – das ist die Deutschschweiz der fünfziger
und sechziger Jahre für viele Leser ganz gewiss, aber dies ist das Land, in dem
Alain Claude Sulzer heranwuchs, und in seinem gerade erschienenen Buch Die
Jugend ist ein fremdes Land bringt er sie uns in bezaubernden Erinnerungen und
Anekdoten ein bisschen näher.
Sein jüngstes Buch ist aus einzelnen kleinen Texten entstanden,
die Sulzer im Laufe der Jahre notiert, teils auch bereits in anderen
Zusammenhängen veröffentlicht hat. Für eine Autobiografie fehlt ihm die chronologische Strenge, stattdessen erhalten wir durch den subjektiven Blickwinkel des Heranwachsenden ein sehr facettenreiches Bild des Umfelds, das ihn prägte. Familienangehörige und Nachbarn spielen darin eine ebenso wichtige Rolle wie Lehrer oder Geistliche und selbstverständlich das gesprochene und geschriebene Wort in all seinen Erscheinungsformen.
Sulzer beschränkt sich auf die Zeit vor seinem zwanzigsten Lebensjahr, denn wie der Autor einräumte, ist er selbst kein häufiger Leser von Biografien und beginnt sich spätestens dann zu langweilen, wenn der Erzähler diese Altersschwelle überschritten hat.
Sulzer beschränkt sich auf die Zeit vor seinem zwanzigsten Lebensjahr, denn wie der Autor einräumte, ist er selbst kein häufiger Leser von Biografien und beginnt sich spätestens dann zu langweilen, wenn der Erzähler diese Altersschwelle überschritten hat.
Die Journalistin Elke Schmitter moderierte die Buchpremiere
im Literaturforum im Brecht-Haus und ging mit ihren Fragen noch weiter in die
Tiefe. Doch Sulzer verfolgt mit seinen Texten weder das Ziel der
Selbstentblößung noch der Analyse oder Erklärung seiner späteren Entwicklung.
Stattdessen sind sie kleine literarische Kunstwerke, von musikalischer und
präziser Sprache und einer gekonnten Balance zwischen dem Erzählten und dem
Ausgesparten.
„Mein Großvater vererbte ihnen [den älteren Söhnen] alles, Max, sein dritter Sohn aus zweiter Ehe, erbte ein paar wertlose Grundstücke, auf denen man Kartoffeln pflanzen konnte“ (Szene auf dem Bauernhof, Seite 13).
Ein generationenüberspannendes Familiendrama, urteilsfrei
und lakonisch in einen einzigen Satz verpackt – es gibt viele Passagen
in Die Jugend ist ein fremdes Land, die ein mehrmaliges Lesen lohnen, um Sulzers
ganze schriftstellerische Virtuosität zu erfassen.
Für Schreibende von besonderem Interesse sind natürlich jene
Anekdoten, in denen Alain Claude Sulzer – der seinen Berufswunsch schon mit
zehn Jahren klar benennen konnte – sich der Literatur annähert, sei es als kindlicher
Leser und angehender Kritiker, sei es als jugendlicher Autor mit der rührenden Selbstüberschätzung eines betrunkenen Siebzehnjährigen.
Für die Moderatorin Elke Schmitter, die genau wie ich in
Krefeld geboren wurde, blieben die Erinnerungen an die hermetische Sozialstruktur
der Schweiz und ihre verkrusteten Regeln und Konventionen nach
eigenem Bekenntnis exotisch. In mir brachten sie allerdings vieles zum Klingen, denn ich habe – wenn auch einige Jahre nach Sulzer – einen Teil
meiner Jugend in der Innerschweiz verbracht. Für mich war es damals
im wörtlichen Sinne ein fremdes Land; heute stoße ich in Alain Claude
Sulzers Buch auf Vertrautes und zum Teil Vergessenes.
Auch ohne diesen besonderen Zugang ist Die Jugend ist
ein fremdes Land, erschienen bei Galiani Berlin, eine lohnende Lektüre und ein ebenso amüsanter
wie berührender Einblick in den frühen Werdegang eines wichtigen
deutschsprachigen Autors der Gegenwart.
Alain Claude Sulzer: Die Jugend ist ein fremdes Land, Galiani Berlin 2017, 222 Seiten
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