Axel Ranisch: Nackt über Berlin



Jannik ist siebzehn, ziemlich übergewichtig und heimlich verliebt in seinen vietnamesischen Mitschüler Tai. Der hat zwar das Aussehen eines Engels, doch als er eines Abends zufällig dem total betrunkenen Rektor ihrer Schule begegnet, schmiedet er einen teuflischen Plan.

Um sich seine Zuneigung zu sichern, hilft Jannik mit. Die beiden schließen Rektor Lamprecht in seiner Wohnung ein und von jeglichem Kontakt zur Außenwelt ab. Zunächst scheint das nicht mehr als ein derber Spaß zu sein, doch als Jannik nach ein paar Tagen bemerkt, dass die Sache aus dem Ruder läuft und zur Folterung mutiert, ist Tai nicht mehr zu bremsen.

Derweil durchläuft Jens Lamprecht, der brutalen Willkür seines anonymen Entführers chancenlos ausgesetzt, alle Phasen der Emotionen, von Wut über Verzweiflung bis zu dem Punkt, an dem er sein Gewissen durchforstet: Womit hat er diese Bestrafung verdient? Leider gibt es da so einige dunkle Flecken in seiner Vergangenheit – und Lamprecht hat mehr als genug Zeit, darüber nachzugrübeln.

Das Schöne an Nackt über Berlin ist, dass beide Seiten dieser Kidnapping-Geschichte viel Raum bekommen: die Täter (genauer gesagt vor allem der Mittäter, denn Tais Motive bleiben lange Zeit unklar) wie auch das Opfer, das keineswegs ein unschuldiges ist. Die unterschiedlichen Perspektiven spiegeln sich auch in Stil und Sprache. Während die in der Ich-Form geschriebenen Teile aus Janniks Sicht eher Jugendbuchcharakter haben, (manchmal etwas zu) viel Umgangssprache verwenden und eine einfache Struktur aufweisen, sind die aus personaler Perspektive über Jens Lamprecht erzählten Passagen sprachlich und dramaturgisch anspruchsvoller – dem unterschiedlichen Alter und Bildungsstand der Protagonisten wird also auf narrativer Ebene Rechnung getragen.

Alle Figuren, auch die weniger wichtigen, sind detailreich, plastisch und lebensnah geschildert. Sie haben schräge Hobbys, kleine Neurosen, körperliche Schwächen oder heimliche Obessionen, ihr Handeln wird von den verschiedensten Verpflichtungen, Wünschen und Unzulänglichkeiten bestimmt, und auf Schwarzweißmalerei hat Axel Ranisch in seinem Debütroman vollkommen verzichtet: Niemand ist nur böse oder nur edelmütig. Im wirklichen Leben ist das selbstverständlich, in der Literatur ja oft leider nicht.

Besonders gefallen hat mir Janniks für einen Siebzehnjährigen ungewöhnliche Begeisterung für klassische Musik und wie sie hier als erzählerisches Element integriert wird. Denn Jannik hört sie nicht nur, er lebt sie regelrecht und lässt sich in seinen Entscheidungen und Reaktionen von ihr leiten.

Es gibt auch ein paar Schwachpunkte in diesem insgesamt sehr unterhaltsamen und empfehlenswerten Roman. Die zahlreichen Rechtschreib- und teilweise auch Grammatikfehler haben mich beim Lesen zunehmend gestört und hätten im Lektorat sorgfältiger behoben werden müssen, und das Happyend ist mir persönlich ein bisschen zu weichgespült, vor allem da die bis dorthin erzählte Geschichte von Loyalitätskonflikten und eskalierender Gewalt durchaus ans mentale Eingemachte geht und die Lesergemüter keineswegs mit Samthandschuhen anpackt.

Dennoch ist Nackt über Berlin – ein Titel übrigens, der sich mir nicht vollständig erschließt, aber als gutes Marketing durchgehen kann – ein Lesevergnügen mit psychologischem Tiefgang, erfreulich mehrdimensionalen Figuren und einer guten Portion handfestem Humor.

Axel Ranisch: Nackt über Berlin, erschienen am 23. Februar 2018 bei Ullstein Buchverlage, Hardcover, 384 Seiten, 20 Euro


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